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Jiwon Kim / Enric Fort-Ballester

Ausstellungseröffnung 30.05.2013
13.06.2013, Weidenhof: Konzert von „Bonnie Rosenberg“

Bonnie Rosenberg sind Maria Schwerdtner und Theo Huber, Studenten der HfBK Dresden. Bonnie Rosenberg erzählen von alltäglichen Unzulänglichkeiten und Erfolgen. Sie Klagen, hoffen und amüsieren. Bonnie Rosenberg verstehen sich als experimentelles Performanceprojekt das an der Schnittstelle von Musik, Literatur und Video handelt. Sie nutzen hierzu das Lied, den Kurzfilm, das Gedicht, die Prosa und das Hörspiel.

www.bonnierosenberg.de

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Wo ist die Kunst?
Text von Klara Lokaj

„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“
(G.W.F. Hegel, Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“)

Gewöhnlich sind Kunstwerke in einem Ausstellungsraum vorzufinden, doch in Niete ist es gar nicht so einfach die Kunstwerke zu finden.
Wo ist die Kunst? Es ist ein Projekt, in dem die Kunst im Raum fehlt. Die Künstler Enric Fort Ballester (*1987 in Valencia, Spanien) und Jiwon Kim (* 1982 in Seoul, Südkorea) arbeiten für diese Ausstellung zum ersten Mal zusammen, nachdem sie gemeinsam 2009 angefangen haben an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig zu studieren und haben ein interaktives Kunstwerk geschaffen, in dem der Besucher selbst agieren muss.

Bevor die Ausstellung selbst erlebt wird, hat man schon in der Einladung ein erstes Kunstwerk in der Hand. Von den Künstlern eigens gemacht, hat der Besucher die Möglichkeit Schiffe versenken zu spielen, welches nur in dialogischer Form stattfinden kann. Ein interaktives Spiel, welches einen weiteren Teilnehmer erfordert, und auch von den Künstlern intendiert ist, es wirklich zu benutzen. Aber ebenso ein Kunstwerk, welches außerhalb der Ausstellungsräume erlebbar sein soll. Durch das Suchen nach Schiffen kann man auch Nieten erfahren – oder selbst zur Niete werden, wenn man verloren hat. So findet sich hier bereits ein Aspekt des Titels der Ausstellung. Niete hat sich im deutschen Sprachgebrauch aus dem holländischen etabliert, von niet – nichts, meist als erfolgloses Los verstanden.
Hier hat man im Ausstellungsraum das wortwörtliche nichts. Nur ein Trampolin, welches aber keinesfalls als Kunstwerk herhalten soll, denn es muss benutzt werden. An der Decke ist eine weiße Box installiert, deren Inhalt man nur durch das Benutzen des Trampolins überhaupt erkennen kann.

Ebenso wie der Akt des Springens. Dadurch werden Besucher zu Teilnehmern, sie werden selbst durch das Springen zur Kunst. Das Teilnehmen, und Sich-Einlassen ist der Entscheidung der Besucher überlassen. Es zeugt auch von einem gewissen Grad an Vertrauen an die Künstler – ist es überhaupt Wert, sich einzulassen?
Das Springen wird zu einem neuen Erlebnis, auch der Raum, der bewusst so inszeniert wird, führt zu einem neuen Raumerlebnis. Diese bewusste Nutzung des Raumes findet sich auch in dessen Erweiterung, dem Balkon. Der Balkon ist schon architektonisch ein Zwischenraum, zwischen innen und außen, zwischen Gebäude und Natur. So gehört er nicht ganz zum Raum, aber doch dazu. Genau dies nutzen die Künstler und zeigen dort den weiteren Teil der Ausstellung. Auf dem Balkon ist ein Teleskop inszeniert, welches ebenso wieder den Besucher die Entscheidung überlässt Durchzuschauen oder nicht. Wenn man sich entschließt, wird man den Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen. Dort ist also das Kunstwerk, außerhalb des Ausstellungsraums, welches die Künstler gemacht haben. Aber genau dies steht nicht wirklich im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um das Medium der Wahrnehmung, also das Teleskop. Denn das impliziert schon eine Distanz, und so sieht man die Dinge nur aus der Ferne, für einen selbst sind sie unerreichbar. Die Dinge, die man betrachtet sind sehr beladen mit Bedeutung, und vor allem mit persönlicher. Es sind bekannte Dinge. So entsteht ein Spiel aus Nähe und Distanz. So ist aber die Gemeinsamkeit das Spiel. Und eben dies ist ein grundlegender Aspekt der Installation, die Nähe zu Kinderspielen. Was auch dazu führt, dass unterschwellige Themen der Institutionskritik sehr spielerisch wirken. Das Spiel wird hier zum Medium, als Erfahrung, als Reflexion.
„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ – Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), 15. Brief. Egal ob in der Ausstellung oder weitergetragen durch die Einladung wird die Aktivität hier zur Kunst gemacht, ebenso wie das Geschehen in den Bäumen außerhalb der Ausstellungsräume stattfindet. Es ist also nicht alles von dem Ausstellungsraum abhängig.
In der Installation geht es nicht so sehr um die Grenzen, die durch die Autoren in den Ausstellungsraum gelegt werden, es geht vielmehr um Entscheidungen, die von jedem getroffen werden müssen. Ein Spiel setzt in dem Sinn auch die Teilnahme voraus, als aktives Subjekt, „das durch die physische und symbolische Partizipation in seinem Sein bestärkt wird und das in Folge befähigt ist, seine eigene soziale und politische Rolle zu gestalten, das Interesse.“ Paul Divjak (2012): Integrative Inszenierungen. Bielefeld: transcript. S.23. Hier kann man sich nicht auf das Bekannte verlassen, es liegt in der Entscheidung es zu erkennen.

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Benjamin Seidel / Serena Ferrario

Ausstellungseröffnung 17.05.2013

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Flyer

Text von Anna Bauer

Wir haben hier eine kleine Schaden
Umher schwirrende amorphe Kugeln und Planeten, skurrile Köpfe – eine  surreale Animation fliegt über eine Armee nackter Frauen hinweg. Das Ganze  wird überwacht vom skeptischen Blick der Künstlerin. Die darunter befindlichen Abzüge der Frauen sind das Produkt der  Vervielfältigung einer einzigen Fotografie. Es handelt sich um die  hyperästhetische Aufnahme eines Modells in provokativer Pose. Ihre seltsame,  exakte Haltung und die perfekte Ausleuchtung lassen die Frage nach dem Kontext der Entstehung aufkommen: Welche Rolle spielt sie hier, die des erhabenen skulpturalen Objekts oder doch eher der angriffslustigen Amazone? Ganz im Gegensatz dazu stehen die sensiblen Aktfotografien im hinteren Teil
des Ausstellungsraumes. Bei genauer Betrachtung lassen sich auf den Körpern der Dargestellten feine Abdrücke von Unterwäsche erkennen. Kleine Schäden der Haut. Sie stören die Perfektion des Bildes und geben dabei doch einen Eindruck größerer Intimität.
Zeigen, dass das Ausziehen gerade erst stattgefunden hat und erinnern noch an  die Kleidung, die diesen Abdruck – diesen Schaden an der so empfindlichen  Oberfläche eines Menschen – hinterlassen hat. Die Arbeiten des Fotografen Benjamin Seidel (geboren 1984 in Lüneburg, lebt  in Braunschweig) sind Ausdruck einer Suche. Egal ob im vertrauten Umfeld des  privaten Wohnraumes oder in der professionellen Arbeitsatmosphäre eines  Fotostudios ist es die Suche nach Intimität. Nach einem privaten Moment, der  mehr zeigen kann als den Körper eines Modells.

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Martina Gromadzki / Nicola Falco

das Fragment

Ausstellungseröffnung 25.04.2013

Filmstudio: Performative Lesung von Fromme Schimpansin & Arbeiter 11811

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Flyer

Text written by Araceli Mangione
The Fragment is a loose term chosen by the artists to describe a bridging together of realities. It can be understood as an entity and or an increment, as a piece or as a whole.
It can even exist simultaneously and independently.
The space and the works presented have been assembled and created by Martina Gromadzki (b. 1990 in Kassel, Germany) and Nicola Falco (b. 1987 in Milan, Italy) and express concepts found within different external and internal parameters, on the one hand asserting the concept “everything goes,” and on the other hand, facing constrictions from already established or pre-supposed discourses. Gromadzki and Falco bring film, drawing, painting and ins tallation together, in effect, constituting a situation between the familiar (i.e. film, patterns, materials, pictures, and techniques) and the arbitrary, (i.e. found in one’s own impulsiveness, imagination and past memories).
Looking at Gromadzki’s work, the fragility, innocence and search for understanding is made quite apparent, found in her shriveled body gesture and recorded speaking in her film, Thoughts Immersed (2013). Her works rely heavily on the internal, poetic and playful. For instance, in Gromadzki’s untitled installation, the disturbances of these inner feelings and one’s desire to place them in order are expressed in the ruffled and “just-right” placements of the hanging fabric and materials. Gromadzki’s film, for example, is composed as a collage of other finished work, putting forth the question the significance of art as an assemblage of mixed mediums.
During the art process, the artist relies on improvisation and fully conscious decisions, which contribute fully to the end result made within its space of creation, within a specific, right-moment. She privatizes her work with impulsive reflections and exact decision-making. These contribute absolutely to the process of her work, but are they still relevant to the end product. The question remains of whether the end result, seen as a final moment captivating other moments, ultimately discredits those single moments or enhances them? Or perhaps they simply remain what they are, fragments.
Falco’s work can be read similarly, from the outer spectrum in and vice-versa, also posing questions of inclusion and exclusion. He replaces “truth” with a personal touch, aided by those memories of maps or grids already imprinted in his mind. The “truth” in this case, reflects that which is trusted and believed to be the truth, such as a map is used to orientate oneself within a city, country, etc. without stopping to think about questioning its actuality. Falco takes the faith entrusted in “official” information, such as a map, and confronts its authority with invalid, unofficial, self-rendered (mystical) qualities. The imaginative, self-defining city-blocks, hills, pathways, etc. of Abstract Landscape (2013) and Falco’s untitled film installation have been exercised and designed from collected experiences of map-making or simply taken from forms which resemble maps. Falco’s work emerges from an interest in systematic mapping—filled with patterns, shapes, forms, lines and curve —which tend to remain strongly embossed in his mind. As a landscape artist and film-maker, Falco reinvents the concept of map-making by extracting already set examples, either within his mind or found within the surface of an object (i.e. a rigged wall), and lets his imagination run wild. Although the featured works have been sculpted after a specific identity and rationality, the finished products remain flexible and can be shared and understood by others. Meaning, Gromadzki’s and Falco’s displays are not to be limited to the artists’ private sphere. The human, as observer, is expected and urged to find his or her own complexities, fantasies, creations and references in these works. Simply start at one point and slowly visualize the next, allowing the works to take on their
own shape and story.
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Lucie Mercadal / Lotta Bartoschewski

irgendwie hab ich mein Handschuh verloren
Ausstellungseröffnung 04.04.2013

Werkgespräch mit AAA (Daniel Schnier und Oliver Hasemann)

Das Autonome Architektur Atelier (AAA) arbeitet seit 2006 an der Wahrnehmung und Inszenierung Öffentlicher Räume. Der Fokus liegt dabei auf der Identifizierung von urbanen Orten, die außerhalb der alltäglichen Wahrnehmung liegen. Mit kleinen und großen Eingriffen verschiebt das AAA die Perspektive auf diese Orte und verändert ihre Wahrnehmung.

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Text von Lena Nölkenbockhoff

irgendwie habe ich mein Handschuh verloren
Narration, eine Verwirrung, eine Störung, ein Verlust?
Eine Feststellung.
Folgt der Feststellung eine Handlung? Nur Irritation oder eine Suche?
Die Handlung als Konsequenz erfordert in jedem Fall Zeit.
Die Video- und Performancekünstlerin Lucie Mercadal und die Bildhauerin Lotta Bartoschewski bespielen mit der Ausstellung „irgendwie habe ich mein Handschuh verloren“ gemeinsam den abgedunkelten Schnittraum. Mit ihren Arbeiten fordern sie förmlich auf, Irritationen zuzulassen und sich auf eine undefinierte Suche zu begeben. Die Ausstellung vermittelt sowohl die formalästhetischen und inhaltlichen Unterschiede der beiden künstlerischen Positionen, als auch ihre inhaltlichen Überschneidungen und den künstlerischen Dialog.
Die Künstlerin Lucie Mercadal (geb. 1987 in Besançon, lebt in Braunschweig) schafft in ihren Arbeiten häufig Inszenierungen merkwürdig anmutender Aktionen, so auch in den beiden im Schnittraum ausgestellten Filmen. Die dargestellten Situationen schwanken, wie sie selbst sagt, meist zwischen „Humor und Melancholie, Spaß und Gefahr, Leichtig- und Ernsthaftigkeit“. Der fünfzehn minütige Film durchsichtig, feucht und warm, 2013 ist mit einem Text unterlegt, in dem der Erzähler die enge Beziehung zwischen ihm und seinem Haus beschreibt. Das Haus als archetypisches Symbol.
An unterschiedlichen Stellen des verschneiten Bremer Hafengebietes wird dann ein Haus aus Latten und milchiger Kunststofffolie gezeigt. Durch mehrere Perspektivenwechsel wird das Haus immer wieder in eine neue Beziehung zu der nur wenig belebten industriellen Umgebung gesetzt. Durch einzelne Aktionen von insgesamt acht Performern mit oder an dem Haus entstehen teils absurd wirkende Situationen, die die temporäre Nutzung des öffentlichen Raums als zentrale Thematik herausstellen. Der leicht ironische Unterton und die subtile Ausdrucksform sind dabei charakteristisch für Mercadals künstlerisches Schaffen.
Lotta Bartoschewski (geb. 1988 in Preetz, lebt in Braunschweig) zeigt im Schnittraum vier Arbeiten. Gemeinsam bilden sie eine raumgreifende Installation, die in Interaktion mit Mercadals Videoarbeiten tritt. Stimmungsgebend wirkt besonders
die Gestaltung der größten Wandfläche, die auch den Ausstellungsort in die Installation mit einbezieht. Durch die Abhängung mit pastellrosa Luftpolsterfolie bildet sich ein farblicher Akzent in dem sonst abgedunkelten weiß-grauen Raum.
Bartoschewski verwendet hauptsächlich gewöhnliche und/oder gefundene Materialien. Seit circa zweieinhalb Jahren arbeitet sie mit Gips. Sie erstellt „Reliefs“ durch Abdrücke von unterschiedlichsten Gegenständen, so auch bei der Bodenskulptur Teppich , 2013. Die glatte Oberfläche der Arbeit wird durchbrochen durch scheinbar verschobene Abdrücke von Bodenplatten mit Noppenstruktur. Mit der Platzierung eines Gipsabdrucks einer Bodenplatte mitten im
Ausstellungsraum wird die eigentliche Funktionalität der Platte ad absurdum geführt und das Interesse auf ihre Oberflächenstruktur gelenkt. Bartoschewskis Arbeiten erzeugen, insbesondere durch ihre Form eine Spannung aus sich selbst heraus. So steht der ovale Umriss der Skulptur mit seinen auslaufenden Außenkanten den ordnungsgebenen, linearen Trennlinien zwischen den fünf Teilelementen der Arbeit gegenüber und die Präzision und Perfektion des Gipsabdrucks im Kontrast zu den handwerklichen Rückständen und auslaufenden Tintenflecken auf der Arbeit. Mit den
zurückgelassenen Arbeitsspuren entstehen außerdem Reibungspunkte und Irritationen. Die Künstlerin knüpft damit an
Paul Thek an, der „Fehler“ im Werk als positiv wertete, da sie Gedankenprozesse auslösen und den Betrachter seinerseits zu Kreativität anregen können.
1
Mercadal und Bartoschewski bedienen sich faktischer Bezüge zur Realität und setzen diese in neue Bedeutungskontexte.
Was bei Mercadal Auseinandersetzung mit (bekannten) öffentlichen Räumen und die Nutzung gewöhnlicher Gegenstände ist (Beispiel Tisch und Lampe in der Tisch , 2013), äußert sich bei Bartoschewski durch die Arbeit mit gefundenen Materialien, Abdrücken und Spiegelungen. Diese Bezüge sind keine Abbildungen von Wirklichkeit, sondern Anknüpfungspunkte, die ihrerseits einen Wiedererkennungswert beim Betrachter hervorrufen können. Wie auch beim Ausstellungstitel „irgendwie habe ich mein Handschuh verloren“ entsteht dann individuelle Variation und Narration.
Davon ausgehend bildet das Zusammenspiel der Arbeiten ohne Titel
, 2013 (2), ohne Titel , 2013 (3) und durchsichtig, feucht und warm
, 2013 den Höhepunkt der Ausstellung. Die Interaktion der Arbeiten erzeugt eine rosastichige Projektion an der gegenüberliegenden Wandfläche. Das neu entstandene Bild lässt nur noch schemenhaft die Szenen aus der Filmprojektion erahnen und schafft teilweise völlig verfremdete Formen. Wenn auch nicht in der gleichen Direktheit wie in den anderen Arbeiten so kann diese Projektion ebenso „als eine Art Abdruck verstanden werden“ so Bartoschewski. Der entstandene Dialog der Arbeiten regt den Betrachter dazu an, den Entstehungsprozess der Projektion nachzuvollziehen und sich somit selbst auf die Suche zu begeben.
1
Paul T hek – T he w onderful w orld that alm ost w as: Snap! C rackle! Pop! W as! Touch m e not!, hg. v. C enter for C ontem porary A rt,
Rotterdam u.a., Rotterdam 1995.

 

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Lisa Seebach / Margarete Albinger

Heim und Hasen

Ausstellungseröffnung 31.01.2013

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Flyer

Text von Viktoria Kramer

Heim und Hasen. Mensch, Tier, Tod.

Im sechsten bis elften Gesang Dantes göttlicher Komödie treffen Dante und Vergil im dritten Höllenkreis auf die Seelen der Gefräßigen. Im eisigen Regen liegen diese auf dem Boden und werden vom Höllenhund bewacht und geschunden. Noch während der weiteren Bootsfahrt erblicken die Dichter am anderen Ufer die Höllenstadt, die von Teufelslegionen bewacht wird. Sie verwehren den beiden Wanderern den Zugang, doch zur Rettung erscheint ein Engel und schließt mit einem Zweig das Tor auf. Er verkündet, dass Dantes Reise den Segen Gottes hat und er sich auf dem rechten Weg befindet.
In brennenden Särgen büßen die Ketzer im sechsten Kreis, die sich nach dem Gericht im Tal schließen. Bei der Bestrafung der Bewohner wird differenziert: Zwischen Unmaß, dem verwirrten tierischen Trieb und der banalen Bosheit.1

„Heim und Hasen“ behandelt ein Thema, das wenig dominant aber dennoch immer stärker in einen aktuellen und für unser Zusammenleben relevanten Rahmen des Diskurses tritt.
Anders als Dante es meint, symbolisiert die Haltung des domestizierten Tieres, speziell des Haustieres in der gegenwertigen zivilisierten Gesellschaft eine ganz besondere Nähe zu einem faszinierenden sowohl menschenähnlichen als auch menschenfremden Wesen. Menschenähnlich, weil ihm pausenlos menschliche Attribute und Verhaltensweisen zugeschrieben werden und unterdessen wird jedes teuflische und unerwünschte menschliche Merkmal und Makel an dieses Wesen weitergegeben, als ,tierisch‘ klassifiziert und vom menschlichen abgegrenzt. Bekannt sind Bezeichnung des beispielsweise ,menschlichen‘ oder ,unmenschlichen‘; in unserer Gesellschaft stark negativ konnotierte Verhaltensweisen werden grundsätzlich in die Sparte des tierischen Vokabulars gesetzt, so kann es folglich vorkommen, dass man frisst wie ein ein Schwein oder wie Tiere übereinander herfällt. Vor dem Hintergrund dieser sprachlichen Phänomene scheint der Mensch außer Acht gelassen zu haben, dass auch er ein Säugetier ist, verweist damit aber auch zugleich auf eine Herkunft von der er sich abzuheben sucht und die gegenwärtig nicht unnötige Aktualität gewinnen darf.

Mit dem „Totenhaus A“ deutet Lisa Seebach einen Moment der Verwandlung des Menschen in eine andere Materie an. Eine Art Auflösung in ein vogelähnliches Wesen, das kausal dem Himmel näher ist als der Mensch, findet statt. Es behandelt somit unweigerlich den Tod als etwas, das beide, also den Tod und das Tier in ihrer Härte verbindet. Mit dem Tod, genauer mit der Ungewissheit des Lebens und jeglicher irdischer Ziele und Lebensphasen nimmt es Margarete Albinger durch ihre Murmeltiere auf dem Halma-Spielfeld auf. Während die Verwandlung des Menschen zum vogelartigen Tier in ihrer Ästhetik und Materialität etwas grausiges im Sinne des Tieres als unberechenbares Unbekanntes hat, eröffnen viele kleine Murmeltiere eine Realität, die uns auf eben diese Unberechenbarkeit des Lebens hinweist.
Eine Faszination für das Tier herrscht vor, wenn auch nicht unkritisch:
War das häusliche Dasein des Tieres seit der Kultivierung der wilden Natur ausschließlich einer Existenz als Nutztier vorbehalten, genießt es heute insbesondere in unseren Breitengraden zunehmenden Respekt.
Als festes Glied gehörte das Tier seit seiner Domestizierung der Gemeinschaft an und sorgte für ihr Überleben. Durch Gabe von Lebensmitteln (Milch, Eier, Fleisch, etc.), Schutz vor Kälte (Verbindung von Stall und Wohnraum zum gegenseitigen Wärmeaustausch), unbefugtem Zugang, Raub (Hund) oder gefräßigen Nagetieren (Katze) wurde es in den seltensten Fällen und meist nur von den jüngeren Familienmitgliedern, als Kuscheltier ,missbraucht‘. Heute bringt die profane Gegenbewegung wider die Einsamkeit das Tier in eine elitäre Position, wo seine Existenz und Lebensaufgabe (für den Menschen) essayistisch aufgearbeitet wird. Entgegengesetzt läuft aber auch das vereinsamte Herrchen oder Frauchen Gefahr, es in ihrer/seiner Fürsorge zu übertreiben und das Tier auf eine latente aber nicht weniger gewaltvolle Art leiden zu lassen.

Die Köttel eines Hasen können, an falscher Stelle verblieben, verärgern, dennoch vermögen die skulpturalen Hinterlassenschaften Bewunderung ernten. Bewunderung zum einen für solch eine für das menschliche Auge ungeahnt amüsante Form der Ausscheidung, die aber unweigerlich und zum anderen in die Lebens- und Daseinsform des Tieres (des Hasen) führt: Die Einfachheit der Existenz, die oft auch durch die simple Beobachtung einer sich sonnenden Katze in eine Sehnsucht mündet. Wie ist es wohl? Ob man sich auch als Katze einen Wecker zum in der Sonne entspannen stellt? Diese Sehnsucht nach der Einfachheit, die meint uns Mensch zurück zum Ursprünglichen führen zu können, trägt ihre Referenzen in zahlreichen Lebensmodellen, Religionen und Strömungen. Und dennoch scheint sie dem ehrgeizigen, auf eine Hinterlassenschaft, die mehr als Kot materialisiert, fixierten Menschen in seiner Umsetzung Probleme zu bereiten.

Dennoch war die Entdeckung der heilsamen Nähe des Haustieres eine revolutionäre Erleuchtung für die menschliche Seele. So symbolisiert die Anhäufung von Kuscheltieren in einem Kinderbett eben diese Heilkraft und die verniedlichte Tatsache, das sich der Mensch gern mit dem Tier umgibt (wenn auch nicht mit seinem inneren Schweinehund). Und trotzdem ist ein Kuscheltier auch immer ein Ersatz für einen menschlichen Freund, einen Gefährten und Begleiter. Oft sogar bis zu seinem Tod und darüber hinaus. Beispielhaft verbildlicht dies der neue Berlinale-Film „Workers“ von José Luis Valle in seiner drastischen Ironie fast übertrieben und doch erschreckend realistisch: Hier erbt Princess nach dem Tod ihrer Hausherrin das gesamte Vermögen. Princess ist die Hündin der verstorbenen Dame.2
Menschen brauchen Tiere, sie brauchten sie schon immer. Heute spaltet sich die Würde und Anerkennung des Tieres seitens des Menschen immer mehr auf: in Biofleisch und artgerechte Haltung, Tierquälerei und Vereinnahmung des Wesens für die eigenen Zwecke.

Princess soll schließlich getötet werden, damit ihr Erbe an die Hausangestellten weiterwandern kann, bevor sie diese überlebt. Und Dantes monströses gefräßiges Höllentier, das nicht selten vom Menschen Besitz zu nehmen scheint, ist nur eine Rolle in die das wendige Tier, Haustier, domestizierte Tier, für uns Menschen zu schlüpfen in der Lage ist.

Text anlässlich der Ausstellung „Heim und Hasen“ von Lisa Seebach und Margarete Albinger. Schnittraum, Braunschweig 2013

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Britta Meyer / Paloma Riewe

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Ausstellungseröffnung 17.01.2013

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Text von Jürgen May

Kaum beginnt das Jahr, endet der erste Monat schon wieder. Auch wenn der Titel nicht zu der
Jahreszeit passt, so scheint er zumindestes mit dem Wetter im Einklang zu sein, so wie die beiden Künstlerinnen in der gemeinsamen Ausstellung harmonisieren.
Der Raum ist jetzt schon komplett abgedunkelt und entspricht der Stimmung dieser Jahreszeit,
dabei bezieht sich der Titel „fall“, auf eine ganz andere. Allein die Kunstobjekte sind angeleuchtet und sind unsere Blickpunkte im Raum.

Der Titel stammt von der vielseitigen Künstlerin Britta Meyer, welche zuerst vorgestellt wird.
Die Künstlerin zeigt sich sowohl in Installation als auch in einer Performance.
Zur Eröffnung der Ausstellung werden wir sie persönlich, sitzend auf einem Hocker, vorfinden, wo sie Blätter von Efeuzweigen rupfen wird. Die Blätter werden dann, wie im Herbst, selbst auf den Boden fallen und ein Teil der Ausstellung. Was einen Wiederspruch erzeugt, da Efeu ein Gewächs ist, welches selbst im Herbst seine Blätter nicht verliert. Dennoch führt die Künstlerin mit Gewalt einen Wandel hervor. Selbst der Hocker wird in der Ausstellung neu drapiert, indem dort eine gerupfte Gans niedergelegt wird. Sowie auch die Gänsefedern im Waschbecken dazu gehören.
Stellen wir eine Verbindung zwischen der Performance, welche durch eine Videoinstallation aus
verschiedenen Blickwinkeln wiederholt wird, und den Federn, die von einer Wärmeleuchte bestrahlt werden, als wäre noch Leben in ihnen, her, so werden Ähnlichkeiten zwischen beiden Arbeiten klar. Die Frage, wo die Kunst anfängt und die Natur aufhört, oder anders herum bleibt dem Betrachter offen.
Nach eigener Aussage wurde Britta Meyer inspiriert von dem Bild “ Die Gänserupferinnen“ von Max Liebermann (1871/72), der einer Verklärung des ländlichen Lebens entgegen wirken wollte.
Schließlich scheint es, dass der Mensch wirklich schon den Bezug zu der Natur verloren hat, sonst könnte diese Performance einen nicht so in den Bann ziehen. Das Thema wird von der Künstlerin durch ihre gewählten Medien somit wieder in den Mittelpunkt gerückt. Dort wo Britta Meyer performativ der Natur näher kommt, da greift Paloma Riewe, indem sie ihr
Material direkt aus der Natur gewinnt.
Sie arbeitet mit Holz und ähnlichen Materialien und formt damit ihre Skulpturen.
Wie selbstverständlich folgt sie einem natürlichen System, das sich wiederholend durch ihre Werke zieht. So reihen sich die Holzplatten in der ersten Skulptur Stück um Stück aneinander, bis sich eine wellenförmige Konstruktion ergibt. Als Beschichtung befindet sich Stroh in Laufrichtung der Holzlatten. Jedoch ist dies eine unvollständige Strohbeschichtung und erinnert an einen natürlichen Prozess, der versucht sich zu vervollständigen und dennoch stets im Kreislauf gefangen ist.

Einen starken Ausdruck der Wiederholung findet sich auch in der zweiten Arbeit. Die Künstlerin
lässt dem Betrachter Freiräume in seinen Vorstellungen, da sie diesem Werk keinen Titel gibt.
Man sieht in Wachs getauchte Papierquadrate, die auf dünnen Holzleisten aufgespießt sind.

Die einzelnen Skulpturen stehen zwar exakt nebeneinander, jedoch findet sich hier eine spielerische Veränderung von Objekt zu Objekt. Weder das Holz, noch die Anzahl der Papiere und ihre Abstände zueinander sind je gleich.
Zwar kann jede Skulptur für sich stehen, dennoch ähneln sie sich. Ähnlich wie wir es in der Natur vorfinden; kein Eichenblatt gleicht im Herbst in seiner Färbung genau dem anderen. Und dennoch tangieren sich ihre Erscheinungen.
Die Wiederholung ist der Künstlerin Riewe sehr wichtig, da sie dieser während der handwerklichen Arbeit eine meditative Wirkung zuschreibt. Und bei dieser Beleuchtung strahlen ihre Werke durchaus eine innere Ruhe aus, die auch den Betrachter zur Ruhe kommen lässt.

Zwei Künstlerinnen, die in einem Raum harmonisieren, und sich dennoch an einigen Ecken
schneiden. Somit möchte ich sie herzlich zu der Ausstellung „fall“ im Schnittraum einladen.

 

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Geraldine Oetken / Frederike Jäger

Oben/Unten

Ausstellungseröffnung 13.12.2012

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Flyer

Text von Tim Glindemann
In einem gemeinsamen Projekt bespielen die Künstlerinnen Geraldine Oetken und Friederike Jäger einen Raum, finden zusammen und vereinen dabei unterschiedlichste Techniken und Ausdrucksformen im Dialog, einen mystischen Raum eröffnend. Video und Malerei, Klang und Skulptur, Optisches und Haptisches stehen sich gegenüber, überschneiden sich und verschwimmen. Schon gedachte oder vorhandene Arbeiten werden neu gedacht, geben zusammen etwas ganz Neues und definieren für die Künstlerinnen einen Status Quo des Sichfindens in der Kunst.
Friederike Jäger hat ihre Schwerpunkte in der Zeichnung und Malerei mit Öl, vertieft sich jedoch auch in Klangkunst und hat keine Scheu, zur Straßenmalkreide zu greifen, um sich Ausdruck zu verleihen: Wie ein bunter Teppich aus Farben und Formen breitet sich die Kreide in „Scribbles“ über den Boden, die Begrenztheit der Ebene des Raumes sprengend aus und lässt uns nach Orientierung, nach Fixpunkten in der Struktur von nervösen, sprunghaften Zeichnungen suchen, die im Halbdunkel des Raumes diffundieren und ihre Farben zögernd preisgeben.
Daneben eine scheinbar geschlossene Anordnung. Ein Archiv von Skizzenbüchern der Künstlerin füllt ein Regal über einem angedeuteten Schreibtisch an der Wand. Was nun geschieht, bricht die Ordnung wieder auf: An der Unterseite des Regals befindet sich eine 50 Meter-Rolle Transparentpapier, auf dem die Künstlerin die eingeschlossenen Gedanken und Gefühle aus der Erinnerung zeichnerisch wieder abwickelt, das abgelegte in einem performativen Akt neu auflegt, den Prozess des Nachdenkens nicht abreißen lässt und im Raum ausbreitet, ihn dabei teilt und füllt; eine Parallele zur Videoinstallation Geraldine Oetkens.
Man findet in ihren Arbeiten immer das Erlebbarwerden eines Prozesses, in dem sich Farben und Formen oder Klänge, nach und nach, in Schichten überlagern, auslöschen und Beziehungen entwickeln und in dem die Künstlerin immer wieder vor Entscheidungen gestellt wird. Herausforderungen, die auch beim gemeinsamen Entwickeln des Ausstellungskonzepts zu bewältigen waren und offensichtlich wurden. Die Werke fordern einen aufmerksamen Betrachter, der forschend, Schicht um Schicht, Teilhaber wird und selbst in einen Prozess des Suchens, Denkens und Assoziierens gerät.
Die Arbeiten Friederike Jägers in der Ausstellung lehnen sich an Malerei und Skulptur an, definieren diese Begriffe jedoch auf ihre ganz eigene Art, wirken dabei händisch, solide, doch verträumt und verspielt und geben intimen Einblick in die Prozesse der Entstehung.
Geraldine Oetken drückt sich bevorzugt durch die digitale Fotografie und Video aus und hat ein leidenschaftliches Verhältnis zu diesen Techniken entwickelt, das sie diszipliniert pflegt, obwohl man auch ihr eine Vielseitigkeit zuschreiben muss, die sich bis jetzt in installativen Arbeiten mit Licht, Sound und ebenfalls in der Bildhauerei zeigte.
Die Videoinstallation „November“ füllt den Raum mit Licht und einer leisen, zarten Klangkulisse. Es handelt sich um einen digitalen Videoloop von 8:20 min Länge, der durch einen Beamer auf eine mittig im Raum zu schweben scheinende, halbdurchlässige Leinwand geworfen wird und so zu einer Lichtskulptur wird. Das Video bleibt abstrakt und hat scheinbar weder Anfang noch Ende. Wir sehen viel Helligkeit; Weiß, das jedoch immer wieder und unregelmäßig durch flimmernde, wiegende, in der Intensität und Form changierende Schattenformen durchbrochen wird. Aus dem Hintergrund können wir ein unaufdringliches Rauschen und Vogelgesänge belauschen.
„Ich möchte Sonnenlicht sammeln. Das ist sehr simpel.“ Was sich wie die naive Vorstellung eines Kindes anhört, ist der Künstlerin unter hohem Arbeits- und Zeitaufwand mit diesem Video gelungen, wobei hier auf die genaue technische Umsetzung nicht weiter eingegangen werden soll, um die Illusion aufrechtzuerhalten und ein Träumen zuzulassen, vielleicht auch ein bedrückendes, negatives Gefühl, welches durch die suggerierte Endlosigkeit und die ungebrochene Präsenz im Raum entstehen kann; der Traum birgt das Potential des Alptraums in sich.
Träume sind ein wichtiges Thema für die Künstlerin. Viele Ideen hängen bei Geraldine Oetken mit Tagträumen, die sie als einen flüchtigen, aber durch das Bewusstsein beeinflussbaren Raum zwischen Realität und Traum und sieht, zusammen. Ein Raum um Ideen zu schöpfen, die grotesk, surreal, mit der Realität spielend erscheinen, wie es in einem Video, in dem die Künstlerin das Grau des Himmels wegzuwischen versucht, anmutet. Eine Idee ist bei der Künstlerin Ausgangspunkt für ein Konzept, das, auch spielerisch, stetig weiterentwickelt wird und an Überzeugungskraft gewinnt, die es braucht um uns unsere Realität so vorzuführen, dass wir ins Zweifeln kommen über die Welt und das Wahrnehmbare.
Einen augenzwinkernden Kontrapunkt setzt das „Planetarium“ auf dem zu einer Höhle umgebauten Balkon des Schnittraums. Die faltbaren, durchlöcherten Himmelskuppeln aus Pappe, die mit einer Lampe versehen zu einem Projektor werden, sind eine gemeinsame Kindheitserinnerung der Künstlerinnen, unterstreichen auch den einvernehmlichen Projektcharakter und erinnern uns nach den Einblicken in die Gedankenwelten der Künstlerinnen außerdem an unsere aller kosmische Identität.

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Johannes von Dassel / André Gudenrath

keine Ausreden

Ausstellungseröffnung 15.11.2012

Flyer

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Mandy Krebs / Annemarie Blohm

Seitenstrasse

Ausstellungseröffnung 22.10.2012

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Text von Jasmin Meinold
Sperrgebiete
Großstadt: Menschen passieren eine Fußgängerbrücke von links nach rechts. Hinter ihnen fahren auf einer weiteren Brücke zwei Züge in die gleiche Richtung. Durch eine Absperrung in der Bildmitte sieht man Autos auf einer mehrspurigen Straße in der Tiefe verschwinden. Der Strom der Bewegung scheint nicht abzureißen.
Allen ist in diesem Wegeleitsystem ein eigener Raum zugewiesen worden: Absperrung, Geländer und Bodenmarkierungen trennen die einzelnen Verkehrsteilnehmer von einander. Diese Zuordnungen werden akzeptiert, niemand dringt in den Bereich des Anderen ein.
Trotzdem scheinen sich alle in die gleiche Richtung zu bewegen und die Anweisung eines Wegweisers in der oben rechten Ecke zu missachten.
Mittels Schnitt verdichtet Annemarie Blohm in „Brücke“ (2012) diese Situation, und lässt sie durch den Loop ins Absurde laufen. Wie sehr stadtplanerische Entscheidungen eine Rhythmisierung von Bewegung und öffentlichem Leben bewirken und damit auch einer Disziplinierung der Körper zuarbeiten, wird durch die filmischen Mittel sichtbar gemacht. Durch ihr eigenes Eingreifen in Geschwindigkeit und Abfolge schafft die Künstlerin Intervalle und manipuliert so nicht nur die vorgegebenen Strukturen sondern auch die Wahrnehmung der Rezipienten.
Der Bewegungsfluss von Fußgängern parallel zum statischen Kamerabild ist auch in einer früheren Videoarbeit der Künstlerin Motiv. In „Vorm Wald“ herrscht vor der Kulisse eines Waldes ein geschäftiges Kommen und Gehen, ganz so wie auf einer Straße in der Stadt. Auch in Mandy Krebs Arbeit „Städtchen“ geht es um Strukturen der Abgrenzung und Fragen von Zugänglichkeit im öffentlichen Raum. In einem Berliner Stadtteil bewachen Männer in NVA Uniform ein versiegeltes klassizistisches Gebäude und geleiten Passanten durch die Straßen. In Zwischenblenden erzählt ein sachlicher Text von der Situation in diesem Sperrgebiet, das lediglich mittels Passierschein betreten werden kann. Standbilder porträtieren friedlich daliegende Stadtvillen, moderne und restaurierte Gebäude, eingerahmt von Parkstreifen.
Der Ton verstärkt zusätzlich den idyllischen Eindruck. Mit Hilfe dokumentarischer Darstellungsverfahren und Reanactment erzählt der Film fragmentarisch die Geschichte des Ortes, ohne diese näher zu Erläutern:
In der DDR war der Majakowskiring zeitweise ein stark bewachtes Wohngebiet für Militär- und Regierungsmitglieder, mit eigener Infrastruktur und hohen Sicherheitsauflagen. Bis 1973 war er Sperrgebiet, nach Auflösung des Staates entwickelte sich die Straße wieder zu dem bürgerlichen Wohnviertel, welches es zuvor gewesen war. Der Ort wurde nicht historisiert, Spuren der Vergangenheit aber auch nicht beseitig, wie es mit anderen Gebäuden der DDR Regierung geschah. So sind die in „Städtchen“ sichtbar werdenden architektonischen Gegebenheiten durch zeitgenössische und historische Bauelemente geprägt.
Die Arbeit unternimmt keine Vermittlung des spezifischen politischen Hintergrunds. Vielmehr geht es der Künstlerin um eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Aktualität einer solchen Wohnstruktur und der Erfahrung, in dieser zu leben. Die Geschichte des Abriegelns bestimmter Gebiete im urbanen Raum folgt zwei gegensätzlichen Traditionen – der Gettoisierung und der Errichtung von Gated Communities, deren Zahl seit den 1970er Jahren weltweit zunimmt. Als Zwangsansiedlung oder freiwilliger Rückzug zeichnen sich diese Lebensräume durch eine starke Homogenität ihrer Bewohner, sozialer Segregation und der Abgrenzung gegenüber dem Umfeld aus. Fand zu DDR Zeiten die Absicherung der nach sowjetischem Vorbild errichteten „Städtchen“ durch militärisches Wachpersonal statt, übernehmen heute Sicherheitsanlagen, Überwachungskameras und private Wachgesellschaften diese Arbeit.
Beide Künstlerinnen zeigen in ihren Arbeiten Versuche kleiner oder großer Machtmechanismen auf, den Stadtraum auf unterschiedliche Weise zu Ordnen und so zu kontrollieren. Dabei kommen beide Arbeiten ohne die menschliche Stimme aus – Annemarie Blohm beobachtet fast unbemerkt die Passanten aus einer kommentar- und tonlosen Distanz, während die Darsteller in Mandy Krebs Video verkleidet oder in zivil stumm zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schweben scheinen. Diese Sprachlosigkeit lässt sie zu Protagonisten eines Apparates werden, den sie selbst nicht als solchen wahrzunehmen scheinen, beziehungsweise dessen Strukturen und Absurdität sie nicht in Frage stellen.

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Handlung und Tat

Kateryna Borysova / Aranka Feige / Sandra Hampe / Béla Pablo Jannssen / David Karl / Fabian Lehnert / Renée ­Lindner / Ivanna Dzyadyk-Makovey / Lin May / Christian Retschlag / Tom Schön / Rizki R. Utama / Moritz Wehrmann / Felizitas Zechmeister

Ausstellungseröffnung 08.12.2010

Werkgespräch mit Lin May

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