Ausstellungseröffnung 17.05.2013
Text von Anna Bauer
Wir haben hier eine kleine Schaden
Umher schwirrende amorphe Kugeln und Planeten, skurrile Köpfe – eine surreale Animation fliegt über eine Armee nackter Frauen hinweg. Das Ganze wird überwacht vom skeptischen Blick der Künstlerin. Die darunter befindlichen Abzüge der Frauen sind das Produkt der Vervielfältigung einer einzigen Fotografie. Es handelt sich um die hyperästhetische Aufnahme eines Modells in provokativer Pose. Ihre seltsame, exakte Haltung und die perfekte Ausleuchtung lassen die Frage nach dem Kontext der Entstehung aufkommen: Welche Rolle spielt sie hier, die des erhabenen skulpturalen Objekts oder doch eher der angriffslustigen Amazone? Ganz im Gegensatz dazu stehen die sensiblen Aktfotografien im hinteren Teil
des Ausstellungsraumes. Bei genauer Betrachtung lassen sich auf den Körpern der Dargestellten feine Abdrücke von Unterwäsche erkennen. Kleine Schäden der Haut. Sie stören die Perfektion des Bildes und geben dabei doch einen Eindruck größerer Intimität.
Zeigen, dass das Ausziehen gerade erst stattgefunden hat und erinnern noch an die Kleidung, die diesen Abdruck – diesen Schaden an der so empfindlichen Oberfläche eines Menschen – hinterlassen hat. Die Arbeiten des Fotografen Benjamin Seidel (geboren 1984 in Lüneburg, lebt in Braunschweig) sind Ausdruck einer Suche. Egal ob im vertrauten Umfeld des privaten Wohnraumes oder in der professionellen Arbeitsatmosphäre eines Fotostudios ist es die Suche nach Intimität. Nach einem privaten Moment, der mehr zeigen kann als den Körper eines Modells. Die Projektionen und Zeichnungen sind Werke von Serena Ferrario (geboren
1986 in Crema/Italien, lebt in Braunschweig). Die Künstlerin beobachtet, fotografiert und skizziert ihr Umfeld. Interessiert sich für Menschen und deren persönliche Geschichte, die sie erfahren oder zumindest erahnen will. Diese Notizen trägt sie dann in einen neuen Raum, schafft andere Konstellationen und spinnt daraus schließlich fiktive Geschichten, skurrile Charaktere und deren Welt. Es entstehen Zeichnungen, die ihren eigenen Kosmos bilden und nach ihren eigenen Regeln funktionieren. Sie selbst bezeichnet die gezeichneten Wucherungen, die aus Seidels Fotografien hervorkommen, auch als „Störungen“. Störungen, weil das Ursprungsbild nicht mehr das ist, was es war. Eine Bedeutung hinzugefügt wurde, die sich mit ihm vermischt und nicht mehr von ihm zu trennen ist. Die immer weitergehende Veränderung und Weiterentwicklung eines Ausgangsbildes charakterisiert ihre gesamte Arbeitsweise und die einzelnen Werke, deren prozesshafte Entstehung dabei immer sichtbar bleiben soll. Dieser offene Ansatz erlaubt die Kooperation mit Benjamin Seidel, mit dem sie für den Schnittraum eine Ausstellung als unabgeschlossenes Experiment entwickelt hat. Beide Künstler ließen sich darauf ein, ihre Arbeiten vom jeweils anderen überlagern und durchdringen zu lassen. Das sichtbare Produkt dieser Zusammenarbeit ist eine Collage zweier verschiedener künstlerischer Positionen und deren Medien, was eine Ausstellung entstehen ließ, die für alle Beteiligten unvorhersehbar war. Der Besucher des Schnittraums wird damit Zeuge des ersten Kontakts zweier Künstler und eines noch immer in der Entstehung begriffenen Prozesses. Zu sehen sind Abbilder realer Menschen oder gezeichnete, fiktive Kreaturen. Wenn Serena Ferrario sagt, es geht ihr um Menschen, dann mache sie damit einen Unterschied zwischen Mensch und dessen Identität. Identität – das ist die völlige Übereinstimmung einer Person oder Sache mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird. Im fotografischen Abbild eines Menschen meinen wir ein Ganzes zu sehen, dem wir eine Identität zuschreiben können. Jedoch ist der menschliche Körper in all seinen Teilen einer ständigen Veränderung durch die Zeit unterworfen, sodass ein kohärentes Ganzes niemals existiert, geschweige denn sichtbar ist. Über die Fotografien der Frauen gelegt, scheint das Gezeichnete visualisierte Interpretation ihres Inneren zu sein, das doch in Wirklichkeit höchstens Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers sein kann. Ebenso wie Fotografien eben auch nicht die Identität des Motivs zeigen können. Der Körper als Projektionsfläche unserer Fantasie. Da bleiben kleine Unstimmigkeiten – Schäden – beim Motiv, beim Künstler und letztlich beim Betrachter.