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Gadiel Aguirre Travi und Reiko Yamaguchi

Sprechende Hände

Ausstellungseröffnung am 30.10.2015 um 19:00 Uhr

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Fotos:  Jan Neukirchen

Die Semiologie unterscheidet grundlegend zwischen dem Bezeichnetem
und der Bezeichnung.1 Diese Begriffe beschreiben den Zusammenhang
zwischen dem gemeinten Objekt und dem sprachlichen Hilfsmittel, das
benutzt wird, um darüber zu sprechen. Um diesen Zusammenhang sichtbar
zu machen, bedienen wir uns einer Geste, die so elementar ist, dass wir sie
im Alltag wahrscheinlich kaum noch als sprachlichen Akt wahrnehmen:
dem Zeigen. Indem wir auf etwas zeigen, machen wir deutlich, was wir
meinen und wovon wir sprechen. Wir unterstützen unsere Rede, indem wir
mittels unserer Hände Vorstellungsbilder beim Gesprächspartner
hervorzurufen suchen. Wie lässt sich nun aber diese alltägliche
Sprachpraxis in ihrer Funktionsweise verstehen und selbst als solche
abbilden, ohne damit etwas anderes zu meinen – wie kann man zeigen ohne
etwas zu bezeichnen?
Dieses Thema behandeln Gadiel Aguirre Travi (*1990 in Juanjui, Peru) und
Reiko Yamaguchi (*1982 in Okayama, Japan) in ihrer ersten gemeinsamen
Ausstellung „Sprechende Hände“.
In der gleichnamigen Videoarbeit zeichnen die beiden Künstler mit dem
Zeigefnger die Handbewegungen verschiedener Politiker aus
unterschiedlichen Ländern während deren Reden mit. Dieses
Nachvollziehen erscheint als eine Analyse, wobei die Künstler keinerlei
Kommentare zu den gezeigten Gebärden abgeben. Durch ihr Hinweisen auf
die Hände der Politiker wird deren Gestik besonders augenfällig und man
meint, durch den Rhythmus und Richtung der Handbewegungen etwas
über den Sprecher erfahren zu können. Stimmung und emotionale
Aufadung der Rede, sowie der persönliche Charakter drücken sich in der
Körpersprache aus und so lässt sich auch ohne zu hören, über was
gesprochen wird, ein bestimmter Informationsgehalt erfassen.
Die Performance Touch me setzt dagegen die Idee der Verständigung mittels
der Zeichnung um. Besucher zeichnen mit ihrem Finger auf dem Rücken
einer der beiden Künstler. Dieser steht an einem Overheadprojektor und
zeichnet auf der Projektorplatte mit, was er auf seinem Körper fühlt. Das
Ergebnis wird auf dem Lichtbild an der Wand sichtbar. In den
entstandenen Zeichnungen lässt sich einerseits simultan, auf einen Blick,
erfassen, was sich sukzessiv ereignet hat. Andererseits lassen sich die Linien
auch langsam nachverfolgen, wodurch ein äußerer Beobachter der Situation
sehen und miterleben kann, was in dem intimen Kontakt zwischen Künstler
und Performanceteilnehmer unsichtbar stattgefunden hat.
Die Linie ist dabei sowohl das Grundelement der Schrift als auch der
Zeichnung. Vielleicht entdecken Künstler gerade jetzt – da sich ein
unmerklicher Wandel dieses Paradigmas vollzogen hat und eigentlich der
Punkt, das Pixel, das Bit zur Grundstruktur unseres Schrift- und
Bildaufbaus geworden ist – das direkte Erfahren des Zusammenhangs von
Realität und seiner Abbildung durch das Nachziehen einer Spur mit
analogen Mitteln für sich neu.
Diese unmittelbare Zeichenerfahrung zeigt sich auch in der Serie
Doppelporträt, die in einem Workshop mit ca. 40 Personen entstand. Den
Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde die Aufgabe gestellt, sich in
Zweiergruppen einander gegenüber zu setzen und innerhalb einer Minute
ein Porträt ihres Partners zu zeichnen. Dafür sollten sie eine Acrylglasplatte
zwischen ihren Köpfen halten und das Gesicht ihres Gegenübers anhand
der Umrisse, die sie durch die Scheibe sehen, nachzeichnen. So entstanden
jeweils zwei sich überlagernde Linienporträts, die in der Ausstellung auf
einem Monitor präsentiert werden. Da die Mitwirkenden in ihrem Alltag
kaum bis gar nicht zeichnen, lässt sich annehmen, dass sie sich der Aufgabe
unvoreingenommen und ohne auf praktische Erfahrung zurückgreifen zu
können, stellten. Die Porträts sind daher Produkte der subjektiven
Wahrnehmung des Gegenübers im aktuellen Moment, was ebenso viel über
das Dispositiv der Zeichensituation wie über Zeichner und Gezeichneten
aussagt.
Die Gemeinschaftsarbeiten von Gadiel Aguirre Travi und Reiko Yamaguchi
machen Bewegungsabläufe sichtbar und geben Einblick in die
Prozessualität ihrer künstlerischen Arbeit. Somit wird in der Ausstellung
„Sprechende Hände“ der performative Aspekt der Zeichnung für den
Besucher erfahrbar und der übliche Begriff dieser althergebrachten Gattung
um ihr kommunikatives Potential erweitert.

1Vgl. z.B. Ferdinand de Saussure. In: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 3.Aufage, Berlin 2001, S. 76f.

Text von Anna Bauer